Leichte Schieflage

erschienen in der Reihe "Der Poetische Blick" - 11

Es fällt aus dem Lot. Es steht schief, neigt sich gen Süden. Und die es flankierenden Gebäude, die zur rechten Seite - wenn man von weitem zu ihm hinschaut - sie stehen ebenfalls schief, als würden sie sich vom Geschehen auf der Straße distanzieren wollen. Doch es fällt vor allem deshalb besonders auf, auch weil es Blickfang ist, mittig steht, seit eh und je.
So vieles ist schon in seinem Schatten passiert, Unzählige haben es passiert, vor Zeiten leichter tagsüber als zur Nacht. So manchem wird wohl an seinem Fuße Hoffnung zur Ernüchterung geworden sein, denn einst symbolisierte es ein "Davor" und ein "Dahinter"; und ein Begehren hatten die davor.
Heute hat es diesbezüglich keine Bedeutung mehr, ungehindert ist es zu passieren; allenfalls, dass es den Motorisierten etwas Geduld abverlangt, weil es nicht in beide Richtungen gleichzeitig eine Durchfahrt ermöglicht.
Und einst hatte es ein Pendant, eines auf der anderen Seite, am anderen Ende der sie verbindenden Straße. An das andere erinnert nur noch eine Tafel, und so bleibt das noch stehende einsam, wie ein versteinerter Wächter, vor dem längst niemand mehr Ehrfurcht empfindet. Dennoch ist es in der Straße von stattlicher Präsenz: die Heutigen wollen es nicht missen, obwohl auch dieses verkehrstechnischen Bedürfnissen durchaus im Wege stehen könnte. Man hat scheinbar gelernt das einstmals Bedeutende nicht unbedingt einer oftmals nur banalen Konvenienz wegen, zu opfern (ein weiteres weiter unten ist auch nicht mehr, gerade deswegen).
Es ist schön es dort stehen zu sehen, auch wenn es schief ist und vielleicht, und dann womöglich erst recht, es immer schiefer wird.