Vortrag Nietzsche Kolloquium Dionysos-Dithyramben

Vortrag Nietzsche Kolloquium Dionysos-Dithyramben


anlässlich des Nietzsche-Kolloquiums in Sils-Maria
am Samstag, den 25. September 2010


«Der Weltschmerz wird durch seltsame Harmonien eingeführt, die sehr herbe und schmerzlich sind und mir anfangs durchaus missfielen. Jetzt erscheinen sie mir durch den Gang des Ganzen etwas wenigstens gemildert und entschuldigt. Das Drängen und Jagen der Leidenschaft zuletzt mit ihren plötzlichen Übergängen und stürmischen Ausbrüchen strotzt von harmonischen Ungeheuerlichkeiten, über die ich nicht zu entscheiden wage.»

Sie wissen – das ist nicht von mir, sondern von Friedrich Nietzsche aus dem Jahre 1862, aus der Zeit also, als er, sechzehnjährig, Stücke wie die «Heldenklage», «Zigeunertanz», «Heimweh» usw. komponiert hatte.

Nun – nicht, dass Sie meinen, ich möchte hiermit eigene «harmonische Ungeheuerlichkeiten» rechtfertigen - ich wollte Ihnen lediglich mit Nietzsches Worten den eigenen Ansatz zur Vertonung einiger seiner Texte vermitteln. In dem Zitat ist nämlich zu erkennen, wie sehr es Nietzsche darauf ankam, Gefühle und Stimmungen unmittelbar in musikalische Fantasie umzuwandeln.

Anhand einiger Beispiele aus meiner Komposition der Dionysos-Dithyramben möchte ich Ihnen einige Wort-Umwandlungen – also von Worten ausgelöste Emotionen, die sich zu einer Klangvorstellung transformierten – näherbringen. Hierzu ist zunächst wichtig zu wissen, dass meine Komposition der Dionysos-Dithyramben die Umsetzung jeder einzelnen Silbe des Nietzsche-Textes ist, durchaus der Komposition eines Liedes entsprechend. Doch es wäre falsch die Vertonung als «Lied ohne Worte» zu verstehen – so wie sie zum Beispiel Felix Mendelssohn-Bartholdy komponiert hat – und das allein schon deshalb, weil die Musik ja sehr wohl genau der Vertonung des Textes entspricht.

Die Dionysos-Dithyramben für Klavier sind verinnerlichte Monologe eines Pianisten, von dem der Zuhörer hört, was er fühlt, aber nicht was er denkt. Es geschieht also genau das Gegenteil von dem, was für gewöhnlich bei einem gesprochenen oder rezitierten Text passiert: wir hören vom Vortragenden das Gedachte oder Erzählte, wenig oder kaum etwas allerdings vom Eigentlichen, Ursprünglichen.

Natürlich versteht ein Schauspieler oder geübter Sprecher den Text zu emotionalisieren, nur – es fehlt die Beziehung zum Auslöser all des Vorgetragenen: das ursprüngliche Gefühl. Im Lied oder in der Oper oder, um bei Nietzsche zu bleiben, im vierten Satz der dritten Symphonie von Gustav Mahler, in dem das «Mitternachtslied» vertont wurde – wird dieser Augenblick der Inspiration offenbart; es geschieht eine Interaktion zwischen Wort und Musik, der Emotion und dem daraus Entstandenen; die Inspiration ist unmissverständlich.

Meine Vertonung der Dionysos-Dithyramben ist also eine Umkehrung des Üblichen: sie bringen den Auslöser, die Inspiration in den Vordergrund. Der Idealfall für den Vortrag der Dionysos-Dithyramben wäre demnach der, dass der Pianist während seines Spiels die dem jeweiligen Anschlag entsprechenden Worte mitdenkt. – Um Ihnen diese Intensivierung des Spiels zumindest etwas zu vermitteln, habe ich die vertonten Dithyramben zum «Miterleben» ausgelegt. Erwähnen möchte ich auch, dass es Ihnen wahrscheinlich schwer fallen wird, einer Melodik, einem Thema nachzugehen. Erklären lässt sich das damit, dass die Komposition nicht von musikalischen Strukturen bestimmt ist, sondern von textlichen. Da jedes Wort seinen ganz spezifischen Klang hat, also der Text bestimmt was wann kommt – und der Text einer Kontinuität folgt, die nicht wiederholt (allerhöchstens einzelne Worte, aber nicht ganze Zusammenhänge; die Ausnahme macht ein Satz in «letzter Wille») – so werden Sie kürzere Passagen wieder erkennen, aber nicht übliche melodische Abläufe.

Nun zu einigen konkreten Beispielen:

Im Dithyrambus «Nur Narr, nur Dichter» kommt ein für Nietzsche wichtiges Wort vor: Gott. – Keine Angst, ich werde Ihnen jetzt nicht «Gott» im Denken Nietzsches erklären – dafür sind ja Sie zuständig – sondern ich werde Ihnen den Prozess zur Klanglichkeit näher bringen, der zum Teil natürlich – wenn man es mit einem dichterisch-philosophischen Text zu tun hat sowieso – auch seine Begründung in Überlegungen findet. Ich ging davon aus, dass Gott, für diejenigen die an ihn glauben, etwas Grundlegendes ist. In der Musik könnte dies einem Grundton entsprechen, dem Ton also, von dem im Dur-moll-tonalen System alles ausgeht.

Wenn ein Komponist sich für einen Ton und seine Tonart entscheidet, ist also bereits einiges entschieden. Was in der Komposition geschieht, steht immer in Beziehung zum ausgewählten Grundton. Da Gott dem Gläubigen erhellend sein kann, habe ich zu seiner Darstellung den eine helle Klangfarbe vermittelnden Akkord C-Dur gewählt. Der Grundton dieser Tonart ist also C. Nun; wenn Sie einen Grundton beleidigen wollen – im tonalen System natürlich – so gelingt das am besten, indem Sie ihn um einen halben Ton nach unten oder nach oben alterieren. Der Halbton ist auf dem Klavier bekanntlich der kleinste Schritt, im Falle eines C’s das h oder eben ces nach unten oder nach oben ein Des oder eben cis. Da im tonalen System der Grundton wichtiger Bezugspunkt ist, man diesen tunlichst nicht verlieren sollte – da ja sonst alles aus den Fugen geriete – darf der Grundton nicht geschwächt werden; und wenn doch (jedoch harmlos), nur um ihn später umso stärker zu bestätigen. Den Grundton mit einem Halbtonschritt nach unten oder nach oben zu schwächen, kommt demnach einer Majestätsbeleidigung gleich.

In der Dithyrambus-Vertonung «Nur Narr, nur Dichter» habe ich genau das getan. Nicht dass das Stück in C-Dur stünde, derart tonal kann man heute in der Kunstmusik kaum noch komponieren, aber ich habe dem C-Dur-Akkord in der linken Hand einen Cis-Dur-Akkord in der rechten entgegengestellt. Ganz nah beieinander klingen die Akkorde fürchterlich, da ich aber dem C-Dur-Akkord in der linken Hand eine «göttliche, grundlegende Weite» geben wollte, steht dieser in seiner für eine Hand weitesten Grifflage, während der Cis-Dur-Akkord in seiner engsten Lage, aber in «elysischen Höhen» tönt. Dadurch wird der Missklang zwar entschärft, die Verklanglichung «Gott» aber beziehungsreicher. Da «Gott» auch in der «Klage der Ariadne» vorkommt, hören Sie auch in diesem Dithyrambus was sie von «Gott» bereits in «Nur Narr, nur Dichter» gehört haben.

Ich mache ein weiteres Beispiel: In der Dithyrambus-Vertonung «Letzter Wille» war mir wichtig den titelgebenden Grund für das Gedachte als Untermalung zu übernehmen. Der Zustand, der zu einem Letzten Willen führt, sollte die Stimmung des Stückes prägen. Nach den präludierenden Tönen – die, wie in diesem Stück, auch die anderen einleiten und die entsprechenden Titel harmonisieren – folgt in der linken Hand eine einförmige Begleitung zweier Töne im Abstand einer Quarte. Ohne das Pedal zu benützen, wird die untere Stimme im Legato gespielt, während die obere im Staccato kontrastiert. Die untere Stimme stellt die Kontinuität, die uns das Leben vorgaukeln kann, dar – schlafen wir nicht ein mit der Erwartung wieder aufzuwachen -, während die obere Stimme ständig das «Lebensband» der unteren unterbricht (der noch Lebende spürt schon, dass er bald nicht mehr sein wird). Das so vertraut gewordene Atmen (das Legato) stockt; es wird kurzatmig (das Staccato).

Das letzte Beispiel, das ich Ihnen erläutern möchte, kommt in der «Klage der Ariadne» vor, genauer dann, wenn mit einem Blitz Dionysos in smaragdener Schönheit sichtbar wird. Diese Textpassage, eigentlich ein Szenenhinweis, gibt mir die Möglichkeit die Konsequenz, die sich aus dem Vorhaben ergibt ausschließlich, Wort für Wort, den Text zu vertonen, zu unterbrechen und eine musikalische Fantasie über den Namen Nietzsche einzufügen. Der Szenenhinweis könnte hierfür geglückter nicht sein, denn hier tritt doch niemand anders auf als Nietzsche selbst. (Eigentlich fast so wie Hitchcock in einem Hitchcock-Film.)

Aus dem Namen Nietzsche ist die folgende Klanglichkeit entstanden: Zunächst habe ich die drei ersten Buchstaben des Namens verwendet, die das Wort «Nie» ergeben. In welchem Sinn ich dieses «Nie» verstehe, möchte ich Ihnen mit der Hilfe Nietzsches vermitteln. Aus «Menschliches, Allzumenschliches» Band II, von den vermischten Meinungen und Sprüchen, Numero 125: «Der Kreis soll fertig werden. – Wer einer Philosophie oder Kunstart bis an das Ende ihrer Bahn und um das Ende herum nachgegangen ist, begreift aus einem inneren Erlebnis, warum die nachfolgenden Meister und Lehrer sich von ihr, oft mit abschätziger Miene, zu einer neuen Bahn fortwandten. Der Kreis muss eben umschrieben werden, - aber der Einzelne, und sei es der Größte, sitzt auf seinem Punkte der Peripherie fest, mit einer unerbittlichen Miene der Hartnäckigkeit, als ob der Kreis nie geschlossen werden dürfte.»

Dieses «nie» ist kein wünschbares, sondern ein Fatum, und wie Schicksal nur sein kann, wenn es auch eine unendliche Fülle an Möglichkeiten gibt, so ist es auf dem Klavier darstellbar mit der Fülle all seiner ihm zur Verfügung stehenden Töne, sprich mit einem Klang, der alle zwölf Töne in sich vereint. Dieser Klang besteht aus einem sechstönigen Akkord, in dem der Tristan-Akkord zu hören ist, und aus einer sechstönigen Melodie. Mit durchgehaltenem Pedal gespielt, ertönt also schließlich ein zwölftöniger Klang; ein Klang eben, der alle dem Klavier zur Verfügung stehenden Töne beinhaltet. Dieser Klang wird jäh unterbrochen von einem – ich nenne ihn mal als dem «nie» ebenbürtig – «kolossalen Seufzer», von einem «tz», einem süffisanten, spöttischen, einem der da ausdrückt: «ja, ja, denk du nur». Sollte der Seufzer gar vom schadenfrohen, unbekannten Henkergott sein? Hier wird die musikalische Fantasie erst recht vom Dithyrambus «Klage der Ariadne» inspiriert. Bis hierher, mit der Verklanglichung des Namens, bei «Nietz» angelangt, fehlen nur noch die Buchstaben s, c, h, e. Diese ergeben ein viertöniges Motiv, das mit einem Quartsprung nach oben der Klanglichkeit des Namen Nietzsche einen versöhnlichen Abschluss verleiht. Dieser Sprung einer reinen Quart nach oben kontrastiert die übermäßige Quart – den Tritonus, den «Diabolus in Musica» – des sechstönigen Akkords im «Nie-Klang»: «Nietzsche» verklingt also, zumindest musikalisch, in einer Harmonie. Oder: ob wohl sein Wahn eine ganz eigene Form der Erträglichkeit war?